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  Die Opfer




1.Opfer der Kinderfachabteilung
2.Der Fall des Kindes A

 

1. Opfer der Kinderfachabteilung

In der "Kinderfachabteilung" Lüneburg sind im zwischen1941 - 1945 von 695 aufgenommenen Kindern 418 verstorben.

Jahr

Bestand der KFA Lüneburg

Zugänge

Entlassen

Gestorben

Sterblichkeit

1941

162

-

2

20

12,3%

1942

277

137

49

115

41,5%

1943

307

194

63

132

42,9%

1944

277

165

69

117

42,2%

4/1945

128

37

3

34

25,6%

Summe

 

695

186

418

 

 

Trotz umfassender staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gibt es nur zwei Kinder, die als namentlich bekannte Opfer der Kindertötungen in der "Kinderfachabteilung" Lüneburg eindeutig identifiziert werden können:

Bernhard Filusch

Geb. 21. November 1941, gest. 15. Juni 1942 nach über vier Monaten Aufenthalt in der "Kinderfachabteilung" Lüneburg. Aufnahme auf Veranlassung des so genannten "Reichsausschusses" in Berlin. Diagnose: Schwachsinn, als Todesursache wurde angegeben: kruppöse Unterlappenlungenentzündung. Vater: Weichensteller (Quellen: Staatsanwaltschaft Lüneburg; 14/2a Js 279/62, Sonderband VI. Aktueller Standort der Akte: Nds. HSTA Hannover; Nds 721 Lüneburg Acc 8/98 Nr. 3. Patientenakte in: HSTA Hannover; Hann 155 Lüneburg Acc 56/83 Nr. 236).

Edeltraud Wölki

Geb. 14. September 1937, gest. 7. Mai 1943. Diagnose: Organische Hirnstörung, als Todesursache wurde angegeben: Rippenfell- und Lungenendzündung. Aufnahme in die "Kinderfachabteilung" Lüneburg: 9. Oktober 1941 (Quellen: Staatsanwaltschaft Lüneburg; 14/2a Js 279/62, Sonderband VI. Aktueller Standort der Akte: Nds. HSTA Hannover; Nds 721 Lüneburg Acc 8/98 Nr. 3. Patientenakte in: HSTA Hannover; Hann 155 Lüneburg Acc 56/83 Nr. 448).

Die Tötung dieser beiden Kinder ist durch eine Zeugenaussage vor der Staatsanwaltschaft Lüneburg (1963) überliefert.

Quelle: http://www.gedenkstaette-psychiatrie.niedersachsen.de/opfer-taeter.html

Zahlen zitiert nach R. Reiter: Zwangssterilisation und NS-Verbrechen: Katastrophe von 1933 bis 1945, in: 100 Jahre Niesersächsisches Landeskraneknhaus Lüneburg hrsg. vom Niedersächsischen Landeskrankenhaus Lüneburch, 1. Auflage 2001, S. 103-117, hier S. 112

 

 

 

2. Der Fall des Kindes A

 

Es ist der Fall des Kindes A (aus Gründen des Archivrechts anonymisiert), das nach den Aussagen einer früheren Pflegerin zu den getöteten Kindern in Lüneburg gehörte. Das Kind A wurde 1941 in Lüneburg während der Fahrt in das Krankenhaus geboren. Es war verkrüppelt und hatte an beiden Beinen unvollständig entwickelte Gliedmaßen. Wegen dieser Missbildung wurde vermutlich durch die Hebamme eine Meldung verfasst, so dass die junge Mutter im Krankenhaus von Vertretern des Gesundheitsamtes Lüneburg aufgesucht wurde. Man wollte insbesondere wissen, ob ähnliche Fälle in der Familie schon vorgekommen waren.

Auf Initiative des Gesundheitsamtes nahm die Mutter Kontakt zum so genannten "Reichssausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" in Berlin auf. Der "Reichsausschuß" übernahm daraufhin die Pflegekosten für die Unterbringung von A in der "Kinderfachabteilung" Lüneburg. Die Mutter nahm an, dass es sich dort um ein Kinderheim handle, in dem eine besondere Fürsorge möglich sei. Die Einweisung in die "Kinderfachabteilung" erfolgte förmlich durch ein Schreiben des "Reichsausschusses", mit dem der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg mitgeteilt wurde, dass das Kind A nach "eingehender fachärztlicher Überprüfung" und im Einklang mit Erlassen des Reichsinnenministers dort die "beste Pflege" erhalten sollte.

A wurde am 5. Februar 1942 in Lüneburg im Haus 25 mit der Diagnose "Peromelie beider Unterschenkel und Schwachsinn" aufgenommen. Der Junge verstarb dort im Juni 1942, als Todesursache wurde "kruppöse Unterlappenlungenentzündung" angegeben. Es handelte sich um einen Fall, für den nach 1945 die "Euthanasie"-Tötung durch die Staatsanwaltschaft namentlich festgestellt werden konnte.

Nach der Aufnahme in Lüneburg wurde A regelmäßig von seiner Mutter besucht, und zunächst entstand der Eindruck, dass das Kind sich mehr oder weniger normal entwickeln würde. Mehr noch: In Gesprächen mit dem behandelnden Arzt wurde ihr in Aussicht gestellt, dass man später eine Prothese für das Kind beschaffen würde. Auch eine Überweisung in ein katholisches Krüppelheim wurde erwogen. Dies war von Beginn an der Wunsch der Mutter gewesen, die das Kind eigentlich im Krüppelheim des Anna-Stiftes in Hannover unterbringen wollte. Der Vater hatte bei Besuchen des Kindes den Eindruck gewonnen, dass es sich trotz der körperlichen Behinderung geistig normal entwickeln würde. Es wurde in einer Karre spazieren gefahren und schien ausreichend verpflegt. Dann aber traten plötzlich Veränderungen ein, die durch die Verabreichung von Luminal verursacht wurden. Das Kind erkrankte an Grippe und nahm kaum noch Nahrung auf. Eine entsprechende Nachricht erhielt die Mutter Mitte Juni 1942 aus der Anstalt Lüneburg, und zwei Tage später wurde sie erneut benachrichtigt:

"Eines Mittags sagte mir ein Tischlermeister aus der Nachbarschaft, aus der Anstalt sei angerufen worden, daß mein Kind im Sterben liege und ich schnell kommen solle. Ich ging mit meinem damals etwa 1 1/2 Jahr alten Sohn hin, [Name] lag im Bettchen und röchelte, er bekam keine Luft. Die Schwester sagte mir, er habe Bronchialkatarr und sei nicht mehr zu retten. Er war schon blau angelaufen. Weil mein anderer Junge unruhig wurde, konnte ich nicht bei dem sterbenden Kinde bleiben und ging wieder nach Hause. Nach einigen Stunden kam auf dem gleichen Wege wie mittags der Anruf, das Kind sei gestorben und ich möchte kommen."

Die letzte Seite des Krankenblattes von A enthält keinerlei Hinweise auf verabreichte Medikamente in den letzten Tagen vor seinem Tode, obwohl er starkes Fieber hatte. Die Patientenakte befindet sich also durch eine vorsätzliche Nichteintragung der verabreichten Medikamente in einem gefälschten Zustand. Die letzten Eintragungen vom 10. Juni bis 15. Juni 1942 wurden vom Leiter der "Kinderfachabteilung", Dr. Baumert, verfasst (einschließlich des Sektionsberichtes). Das Schriftbild hebt sich von den Eintragungen der Vortage ab, so dass der Eindruck entsteht, als seien die letzten Eintragungen in einem Zuge geschrieben worden. Auszug aus dem Krankenblatt des Kindes A:
 

1942
Monat
Tag  
Mai 19. entwickelt sich körperlich gut- Geistig auch schon regsamer geworden. ... nach seinem Alter noch etwas zurück. Muss sehr gehegt und gepflegt werden.
Juni 10. In den letzten Tagen häufiger Fieber bis 38o. Sieht blaß aus, nicht so ... ist auch unzufriedener. Seiten Katarrh über beiden. Lungen.
Juni 14. Weiterhin verschlechtert, Temp. bis 40o. Re. Unterlappenpneumonie. Sehr hinfällig. Herz Aktion schlecht. Keine Nahrungsaufnahme in den letzten Tagen.
Juni 15. Heute um 13.45 Uhr Exitus letalis. Sektion: E... Re Unterlappenpneumonie.

A wurde auf Anweisung des Leiters der "Kinderfachabteilung" von einer Pflegerin mit Luminal getötet. Eine entsprechende Einlassung der Pflegerin stammt vom 12. Juni 1963. Im gleichen Jahr wurden auch die Eltern von A durch das Landgericht Lüneburg als Zeugen vernommen. Nach der Befragung wurde folgender Aktenvermerk angefertigt, der die Dramatik der Ereignisse offenbart:

"Die Zeugen [...] leiden offensichtlich noch heute sehr unter dem Schlag, der sie durch die Geburt des verkrüppelten Kindes getroffen hat. Ich habe daher bewußt davon abgesehen, Ihnen zu eröffnen, daß man nach der Einlassung der Angeschuldigten [...] wird davon ausgehen müssen, daß ihr Kind [Name] eingeschläfert worden ist."

 

R. Reiter: Zwangssterilisation und NS-Verbrechen: Katastrophe von 1933 bis 1945, in: 100 Jahre Niesersächsisches Landeskraneknhaus Lüneburg hrsg. vom Niedersächsischen Landeskrankenhaus Lüneburch, 1. Auflage 2001, S. 103-117, hier S. 114