Trotz umfassender
staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gibt es nur zwei Kinder,
die als namentlich bekannte Opfer der Kindertötungen in der
"Kinderfachabteilung" Lüneburg eindeutig identifiziert werden
können:
Bernhard Filusch
Geb. 21. November
1941, gest. 15. Juni 1942 nach über vier Monaten Aufenthalt in
der "Kinderfachabteilung" Lüneburg. Aufnahme auf Veranlassung
des so genannten "Reichsausschusses" in Berlin. Diagnose:
Schwachsinn, als Todesursache wurde angegeben: kruppöse
Unterlappenlungenentzündung. Vater: Weichensteller (Quellen:
Staatsanwaltschaft Lüneburg; 14/2a Js 279/62, Sonderband VI.
Aktueller Standort der Akte: Nds. HSTA Hannover; Nds 721
Lüneburg Acc 8/98 Nr. 3. Patientenakte in: HSTA Hannover; Hann
155 Lüneburg Acc 56/83 Nr. 236).
Edeltraud Wölki
Geb. 14. September
1937, gest. 7. Mai 1943. Diagnose: Organische Hirnstörung, als
Todesursache wurde angegeben: Rippenfell- und Lungenendzündung.
Aufnahme in die "Kinderfachabteilung" Lüneburg: 9. Oktober 1941
(Quellen: Staatsanwaltschaft Lüneburg; 14/2a Js 279/62,
Sonderband VI. Aktueller Standort der Akte: Nds. HSTA Hannover;
Nds 721 Lüneburg Acc 8/98 Nr. 3. Patientenakte in: HSTA
Hannover; Hann 155 Lüneburg Acc 56/83 Nr. 448).
Die Tötung dieser
beiden Kinder ist durch eine Zeugenaussage vor der
Staatsanwaltschaft Lüneburg (1963) überliefert.
Quelle:
http://www.gedenkstaette-psychiatrie.niedersachsen.de/opfer-taeter.html
Zahlen zitiert nach R. Reiter: Zwangssterilisation und NS-Verbrechen: Katastrophe von 1933 bis 1945, in: 100 Jahre Niesersächsisches Landeskraneknhaus Lüneburg hrsg. vom Niedersächsischen Landeskrankenhaus Lüneburch, 1. Auflage 2001, S. 103-117, hier S. 112
2. Der
Fall des Kindes A
Es ist der Fall des Kindes A
(aus Gründen des Archivrechts anonymisiert), das nach den
Aussagen einer früheren Pflegerin zu den getöteten Kindern in
Lüneburg gehörte. Das Kind A wurde 1941 in Lüneburg während der
Fahrt in das Krankenhaus geboren. Es war verkrüppelt und hatte
an beiden Beinen unvollständig entwickelte Gliedmaßen. Wegen
dieser Missbildung wurde vermutlich durch die Hebamme eine
Meldung verfasst, so dass die junge Mutter im Krankenhaus von
Vertretern des Gesundheitsamtes Lüneburg aufgesucht wurde. Man
wollte insbesondere wissen, ob ähnliche Fälle in der Familie
schon vorgekommen waren.
Auf Initiative des
Gesundheitsamtes nahm die Mutter Kontakt zum so genannten "Reichssausschuß
zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten
schweren Leiden" in Berlin auf. Der "Reichsausschuß" übernahm
daraufhin die Pflegekosten für die Unterbringung von A in der
"Kinderfachabteilung" Lüneburg. Die Mutter nahm an, dass es sich
dort um ein Kinderheim handle, in dem eine besondere Fürsorge
möglich sei. Die Einweisung in die "Kinderfachabteilung"
erfolgte förmlich durch ein Schreiben des "Reichsausschusses",
mit dem der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg mitgeteilt
wurde, dass das Kind A nach "eingehender fachärztlicher
Überprüfung" und im Einklang mit Erlassen des
Reichsinnenministers dort die "beste Pflege" erhalten sollte.
A wurde am 5. Februar 1942 in
Lüneburg im Haus 25 mit der Diagnose "Peromelie beider
Unterschenkel und Schwachsinn" aufgenommen. Der Junge verstarb
dort im Juni 1942, als Todesursache wurde "kruppöse
Unterlappenlungenentzündung" angegeben. Es handelte sich um
einen Fall, für den nach 1945 die "Euthanasie"-Tötung durch die
Staatsanwaltschaft namentlich festgestellt werden konnte.
Nach der Aufnahme in Lüneburg
wurde A regelmäßig von seiner Mutter besucht, und zunächst
entstand der Eindruck, dass das Kind sich mehr oder weniger
normal entwickeln würde. Mehr noch: In Gesprächen mit dem
behandelnden Arzt wurde ihr in Aussicht gestellt, dass man
später eine Prothese für das Kind beschaffen würde. Auch eine
Überweisung in ein katholisches Krüppelheim wurde erwogen. Dies
war von Beginn an der Wunsch der Mutter gewesen, die das Kind
eigentlich im Krüppelheim des Anna-Stiftes in Hannover
unterbringen wollte. Der Vater hatte bei Besuchen des Kindes den
Eindruck gewonnen, dass es sich trotz der körperlichen
Behinderung geistig normal entwickeln würde. Es wurde in einer
Karre spazieren gefahren und schien ausreichend verpflegt. Dann
aber traten plötzlich Veränderungen ein, die durch die
Verabreichung von Luminal verursacht wurden. Das Kind erkrankte
an Grippe und nahm kaum noch Nahrung auf. Eine entsprechende
Nachricht erhielt die Mutter Mitte Juni 1942 aus der Anstalt
Lüneburg, und zwei Tage später wurde sie erneut benachrichtigt:
"Eines Mittags sagte mir ein
Tischlermeister aus der Nachbarschaft, aus der Anstalt sei
angerufen worden, daß mein Kind im Sterben liege und ich schnell
kommen solle. Ich ging mit meinem damals etwa 1 1/2 Jahr alten
Sohn hin, [Name] lag im Bettchen und röchelte, er bekam keine
Luft. Die Schwester sagte mir, er habe Bronchialkatarr und sei
nicht mehr zu retten. Er war schon blau angelaufen. Weil mein
anderer Junge unruhig wurde, konnte ich nicht bei dem sterbenden
Kinde bleiben und ging wieder nach Hause. Nach einigen Stunden
kam auf dem gleichen Wege wie mittags der Anruf, das Kind sei
gestorben und ich möchte kommen."
Die letzte Seite des
Krankenblattes von A enthält keinerlei Hinweise auf verabreichte
Medikamente in den letzten Tagen vor seinem Tode, obwohl er
starkes Fieber hatte. Die Patientenakte befindet sich also durch
eine vorsätzliche Nichteintragung der verabreichten Medikamente
in einem gefälschten Zustand. Die letzten Eintragungen vom 10.
Juni bis 15. Juni 1942 wurden vom Leiter der
"Kinderfachabteilung", Dr. Baumert, verfasst (einschließlich des
Sektionsberichtes). Das Schriftbild hebt sich von den
Eintragungen der Vortage ab, so dass der Eindruck entsteht, als
seien die letzten Eintragungen in einem Zuge geschrieben worden.
Auszug aus dem Krankenblatt des Kindes A:
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