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Schatten der Vergangenheit


Minus zwanzig Grad. Die halbnackten Füße taub. Es ist dunkel hier im nirgendwo. Nur die Schreie der Kinder zeugen von dem Leben, das noch in ihnen steckt. Oder etwa nicht mehr? Viele waren es. Sehr viele. Ob sie noch was gespürt haben? Zuerst wurden sie noch gestapelt weggefahren. Lange ist das her. Jetzt lässt man sie nur noch liegen. Zorn. Angst. Schmerz. Nichts ist mehr da. Noch eine Serpentine. Und was kommt dann?
Die Gedanken lassen mich nicht los. Vieles hat man gelesen, gehört oder gesehen - noch auf der Fahrt hierhin. Aber jetzt ist alles anders: Ich stehe davor und werde das dumpfe Gefühl, das sich irgendwo in meinem Bauch festgesetzt hat, nicht mehr los. Schweigen. Zum Glück bin ich, sind wir nicht alleine. Und es geht allen so. Wo war der Rest Europas damals? Haben die nur zugeschaut oder viel geredet, so wie sie es heute tun? Irgendwie schäme ich mich. Schämt sich auch der Holländer, mit dem wir erst solchen Spaß hatten? Oder ist es doch eher Zorn? Ich weiß es nicht. Trauer. Ja, das trifft es, glaube ich, ganz gut. Und es geht weiter. Jetzt sind wir drin.



Ein Stacheldrahtzaun. „Arbeit macht frei“ haben sie immer wieder gesagt. Sind wir endlich am Ziel? Wieder ein Zwischenlager? Ratlosigkeit. Eingepfercht - schon wieder. Draußen fallen Schüsse. Nichts Neues. Aber was kommt dann? Morgen gibt es Arbeit, das haben sie gesagt. Manchen haben sie irgendwas zum Schlucken gegeben: „Damit es uns bald besser geht.“
Ob er es überlebt hat? Viele wohl nicht. Vielleicht hat er nichts gespürt. Hoffentlich. Wie ist das eigentlich mit den Medikamenten, die in meinem Gepäck in der Jugendherberge ruhen? Besser nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt.
Arbeit haben sie versprochen. Ja, das Versprechen haben sie gehalten. Hier gibt es Arbeit. Mehr als genug. Die Schwächsten haben es nicht lange geschafft. Gefoltert haben die sie. Arbeiten konnten sie trotzdem nicht mehr. Es gibt keinen Ausweg. Früher oder später macht der Hunger jeden schwach. Arbeitslager. Das war es am Anfang. Jetzt gleicht es einem Vernichtungslager. Eben fielen wieder Schüsse. Wer kann da noch hinsehen?
Wir. Wir müssen hinsehen. Wir, das Europa von morgen. Auf dem Heimweg sind sich alle einig: Als Zeuge der schattigen Vergangenheit hält das Konzentrationslager „Natzweiler-Strudthof“ auch für die Jugend von heute und morgen die Erinnerung an ihre Vorfahren wach, damit Geschichte nicht Zukunft wird.



Eindrücke vom Konzentrationslager „Natzweiler-Strudthof“, das wir im Laufe unserer Straßburgreise zusammen mit unserer niederländischen Partnerschule besucht haben.

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  © 2004 · Nils Giesen · Emailemail senden